Der BGH hat sich zur Anwendung des Zweifelsatzes im Zusammenhang mit der Verurteilung wegen schwerer sexuellen Nötigung geäußert. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen ein Urteil des Landgerichts Darmstadt Revision eingelegt. Das Rechtsmittel hatte Erfolg. In dem Beschluss wird erneut darauf hingewiesen, dass der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ grundsätzlich keine Anwendung bei einzelnen Elementen der Beweiswürdigung findet, sondern die Entscheidung erst bei der abschließenden Gesamtwürdigung beeinflussen kann. Der BGH versucht dies stets mit dem einprägsamen Satz zum Ausdruck zu bringen, dass der Zweifelssatz keine Beweiswürdigungs-, sondern eine Entscheidungsregel sei (BGH, Beschluss vom 12. 10. 2011 – 2 StR 202/11 (LG Darmstadt)).

Schwere sexuelle Nötigung. Folgendes hatte sich zugetragen:

„Der Angeklagte wusste, dass eine junge attraktive Frau nicht freiwillig Interesse an ihm zeigen würde und nahm sich deshalb vor, eine Frau zu entführen, um mit ihr an einem abgelegenen Ort sexuelle Handlungen vornehmen zu können.

Auf der Suche nach einem geeigneten Tatopfer hielt sich der Angeklagte am 26. 6. 2010 gegen 23.15 Uhr auf dem Parkplatz hinter der Stadthalle in G. auf. Er hatte zur Überwindung des erwarteten Widerstandes ein Pfefferspray bei sich, war mit einer blonden Frauenperücke verkleidet und hatte die amtlichen Kennzeichen seines Pkw durch alte, bereits abgemeldete Kennzeichen ersetzt. Der Angeklagte beschloss entsprechend seinem Tatplan die Zeugin B, die als Bedienung bei einem Abiturball tätig gewesen war, „mit Gewalt in sein Auto zu ziehen, um dann mit ihr an einem abgeschiedenen Ort gegen ihren Willen gewaltsam körperliche Zärtlichkeiten auszutauschen, sie insbesondere nachhaltig – auch mit der Zunge zu küssen, ihren gesamten Körper – einschließlich der Geschlechtsteile – zu streicheln und von ihr gleichsam berührt und geküsst zu werden (‚mit ihr zu schmusen’). Gegebenenfalls sollte es dann – allerdings nur auf freiwilliger Basis – auch zur Durchführung des Geschlechtsverkehrs kommen”.

Der Angeklagte fuhr mit seinem Pkw langsam an die Zeugin heran, die ihm den Rücken zuwendete. Er stieg aus, öffnete die hintere Fahrzeugtür und näherte sich der Zeugin. Als er sie erreicht hatte, packte er sie von hinten im Schulterbereich und sprühte ihr das Pfefferspray ins Gesicht, traf dabei jedoch auch sich selbst, weil er die Sprayflasche verkehrt hielt. Noch während des Sprühens drückte er die Zeugin auf den Boden und versuchte, sie rückwärts in sein Auto zu ziehen. Da die Zeugin sich jedoch heftig wehrte und laut schrie, wodurch Sicherheitsmitarbeiter der Stadthalle auf das Geschehen aufmerksam wurden, ließ der Angeklagte von ihr ab. Er konnte mit seinem Pkw unerkannt vom Parkplatz fliehen.

Nach diesem gescheiterten Versuch wollte der Angeklagte sein Vorhaben nunmehr erfolgreich umsetzen. Um nicht entdeckt zu werden, montierte er auf einem Parkplatz die Kennzeichen eines anderen Pkw ab und brachte sie an seinem Fahrzeug an. Außerdem führte er erneut das Pfefferspray sowie Klebeband mit sich, um dieses Mal mögliche Hilfeschreie des Opfers zu unterbinden. In den frühen Morgenstunden des 29. 6. 2010 parkte der Angeklagte, der von der Straße aus die Nebenklägerin beim Joggen wahrgenommen hatte, sein Fahrzeug an einem von der Straße nicht einsehbaren Radweg. Mit dem Pfefferspray und dem Klebeband ausgerüstet lief er der Nebenklägerin entgegen. Als er sich auf gleicher Höhe mit ihr befand, packte er sie, warf sie zu Boden und besprühte sie mit dem Pfefferspray. Da die Nebenklägerin jedoch ihr Gesicht abgewendet hatte, drang das Spray nicht in ihre Augen. Sie konnte sich von dem Angeklagten losreißen und weglaufen, wurde jedoch von ihm nach wenigen Metern wieder eingeholt. Er packte die sich heftig wehrende Nebenklägerin von hinten, zog an ihren Haaren und schlug ihr ins Gesicht. Außerdem forderte er sie auf, ruhig zu bleiben. Die Nebenklägerin rief dennoch laut um Hilfe. Der Versuch des Angeklagten, dies mit dem Klebeband zu unterbinden, misslang aufgrund des Widerstandes der Nebenklägerin. Er konnte sie jedoch erneut zu Boden reißen, wo er weiter auf sie einschlug. Der Nebenklägerin gelang es dennoch, sich loszureißen und schreiend in Richtung Hauptstraße zu laufen, wo sie auf einen Zeugen traf. Als der Angeklagte dies realisierte, ließ er aus Angst vor Entdeckung von seinem Vorhaben ab und verließ den Tatort mit seinem Pkw.

Der Angeklagte hat das äußere Tatgeschehen eingeräumt und sich dahingehend geäußert, er habe mit der Geschädigten nur „schmusen und sie streicheln und küssen wollen. Eine Vergewaltigung, d.h. den Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Geschädigten durchzuführen, habe er nicht vorgehabt. Er hätte jedoch auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn es dazu auf freiwilliger Basis gekommen wäre”“(BGH, Beschluss vom 12. 10. 2011 – 2 StR 202/11 (LG Darmstadt)).

Aufgrund dieser Feststellungen hat das Landgericht Darmstadt das Tatgeschehen rechtlich in beiden Fällen als versuchte schwere sexuelle Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet. „Ein „weitergehendes sexuelles Interesse als das, welches der Angeklagte selbst eingestanden habe”, vermochte die Kammer nicht festzustellen. Aus der Tatsituation ergäben sich keine ausreichenden objektiven Anhaltspunkte dafür, dass auch die gewaltsame Durchführung des Geschlechtsverkehrs von seinem Tatwillen umfasst gewesen sei. Ein solcher Rückschluss wäre nach Ansicht der Kammer „rein spekulativ” gewesen und „sei mit dem Grundsatz in dubio pro reo nicht vereinbar”“ ”“(BGH, Beschluss vom 12. 10. 2011 – 2 StR 202/11 (LG Darmstadt)).

„Das Landgericht, das in beiden Fällen von der Verwirklichung des § 177 Absatz IV StGB (Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs bei einer sexuellen Nötigung) ausgegangen ist, hat im Fall 1 unter Annahme eines minderschweren Falles (§ 177 Absatz V StGB) eine Einzelstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten, im Fall 2 bei Anwendung des Normalstrafrahmens eine solche von 3 Jahren und 10 Monaten für tat- und schuldangemessen erachtet. Hieraus hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 8 Monaten gebildet“ (BGH, Beschluss vom 12. 10. 2011 – 2 StR 202/11 (LG Darmstadt)).

Die gegen das Urteil gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft hatte aus den folgenden Gründen mit der Sachrüge Erfolg:

Zweifelssatz ist keine Beweiswürdigungs-, sondern eine Entscheidungsregel

„Darüber hinaus begegnet das Urteil durchgreifenden rechtlichen Bedenken, soweit das Landgericht eine versuchte besonders schwere Vergewaltigung verneint hat. Die Revision rügt insoweit zu Recht die fehlerhafte Anwendung des Zweifelssatzes bei der Beweiswürdigung des Landgerichts. Der Grundsatz in dubio pro reo ist keine Beweisregel, sondern eine Entscheidungsregel (…). Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anwendbar (…). Er besagt nichts darüber, wie der Tatrichter die Beweise zu würdigen hat, sondern kommt erst bei der abschließenden Gesamtwürdigung zum Tragen (…).

Sexualdelikte im Revisionsverfahren

Dies hat das Landgericht verkannt, als es den Angeklagten wegen schwerer sexuellen Nötigung verurteilte. In den Urteilsgründen fehlt es als Grundlage für eine Anwendung des Zweifelssatzes an einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen, insbesondere an einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit der – zudem nicht durchgängig einheitlichen – Einlassung des Angeklagten sowie mit dem objektiven Tatgeschehen, das nach der Lebenserfahrung in hohem Maße dafür sprach, dass der Angeklagte mit Gewalt auch den Geschlechtsverkehr mit den Geschädigten erzwingen wollte.

Darüber hinaus ist die Begründung, mit der die Kammer die entsprechende Einlassung des Angeklagten zu seinen sexuellen Absichten (schwere sexuelle Nötigung) nicht als Schutzbehauptung wertet, lückenhaft und widersprüchlich. Die Kammer hat in den Feststellungen die Einlassung des Angeklagten übernommen, er habe die Zeugin B mit Gewalt in sein Auto ziehen wollen, um „gegen ihren Willen gewaltsam” sexuelle Handlungen durchzuführen, ohne sich mit dem Widerspruch auseinanderzusetzen, der darin liegt, dass der Angeklagte die so erzwungenen Handlungen als „körperliche Zärtlichkeiten” und „schmusen” bezeichnet hat.

Darüber hinaus findet in den Feststellungen keine erkennbare Stütze, dass es die Kammer mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten für nachvollziehbar hält, er sei aufgrund „seiner männlichen Ausstrahlung sowie sexuellen Erfahrung und der damit verbundenen positiven Wirkung auf die jeweilige Geschädigte” davon überzeugt gewesen, dass die Geschädigten „nach der anfänglich gewaltsamen Durchführung der sexuellen Handlungen sodann freiwillig zu mehr bereit” sein würden. Diese Überlegung steht zudem im Widerspruch zu der im Urteil wiedergegebenen Einschätzung des Angeklagten und der von ihm selbst angegebenen Motivation für die geplanten Entführungen, junge, attraktive Frauen würden nicht freiwillig ein sexuelles Interesse an ihm zeigen“ ”“(BGH, Beschluss vom 12. 10. 2011 – 2 StR 202/11 (LG Darmstadt)).

Das Urteil wurde aufgehoben und die Strafsache zu neuer Verhandlung zurückverwiesen.