Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte sich erneut mit den Anforderungen auseinanderzusetzen, die vom Tatgericht erfüllt werden müssen, um die Annahme zu begründen, bei dem Angeklagten haben „schädliche Neigungen“ vorgelegen. Schädliche Neigungen können hiernach nur angenommen werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt waren. Außerdem müssen diese zum Zeitpunkt der Urteilsbegründung noch vorliegen (BGH, Beschluss vom 20. 7. 2010 – 5 StR 199/10 (LG Hamburg)).

Folgendes hatte sich zugetragen:

Das Landgericht Hamburg sprach den Angeklagten – wie auch zwei Mitangeklagte – wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchter räuberischer Erpressung schuldig und verurteilte ihn zu einer Jugendstrafe von 8 Jahren. Der Verurteilung liegt zu Grunde, dass der Angeklagte am 15. 4. 2008 an einer gewaltsamen Eintreibung von Außenständen aus Drogenverkäufen des Angeklagten B durch diesen und den Nichtrevidenten L mitgewirkt hat, die zur Tötung des Drogenkäufers führte. Der Angeklagte hatte zunächst eine Mitwirkung an der Tötung abgelehnt und sich lediglich mit der Erteilung einer Lektion einverstanden erklärt. Nach Beginn der Tötungshandlungen der Mittäter sprang er mehrfach auf das Opfer, setzte hierdurch dessen Wehrfähigkeit herab und nahm in Kenntnis und Billigung der Tathandlungen der Mittäter den Tod des Drogenkäufers in Kauf (…) (BGH, Beschluss vom 20. 7. 2010 – 5 StR 199/10 (LG Hamburg)).

Das Landgericht hat die Jugendstrafe neben der Schwere der Schuld auch mit dem Vorliegen schädlicher Neigungen gem. § 17 II JGG begründet und hierfür auf die ganz erhebliche Beteiligung des Angeklagten an einem besonders schweren Delikt, wenn auch nicht als treibende Kraft, abgestellt. Es hat ferner ausgeführt: „Der bis dahin nur geringfügig strafrechtlich in Erscheinung getretene Angeklagte M hat zur Überzeugung der Kammer erkennbare Defizite, sich von möglicherweise als falsch erkannten Handlungen zu distanzieren. Die Probleme, sich abzugrenzen, und die ihn prägenden Helfertendenzen führten zur Überzeugung der Kammer dazu, dass der Angeklagte M aus falsch verstandener Kameradschaft auch bereit war, sich an erheblichsten Straftaten zu beteiligen. In der Tat sind schädliche Neigungen in einem Umfang hervorgetreten, die ohne eine längere Gesamterziehung die Gefahr weiterer nicht nur unerheblicher Straftaten in sich bergen”“ (BGH, Beschluss vom 20. 7. 2010 – 5 StR 199/10 (LG Hamburg)).

Revision im Jugendstrafrecht

Mit diesen Erwägungen hatte das Landgericht Hamburg fehlerhaft das Vorliegen schädlicher Neigungen begründet:

„Hierfür sind erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel erforderlich, die in aller Regel nur bejaht werden können, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt waren (…). Solche hat das LG aber nicht festgestellt.

Die Jugendstrafkammer ist dem Gutachten des jugendpsychiatrischen Sachverständigen zur Persönlichkeit des Angekl. gefolgt, das keine Auffälligkeiten im Sozialverhalten des Angekl. festgestellt und ihn als hilfsbereite Persönlichkeit beschrieben hat, die über kein großes Selbstwertgefühl und wenig Selbstvertrauen verfüge und unter Prüfungsangst leide. Er sei eine um Bestätigung bemühte Person, die nicht leicht eine eigene klare Position definieren könne und eher Tendenzen zeige, sich mit seinen Problemen einem Erwachsenen anzuvertrauen. Im Verhältnis zu den Eltern habe noch keine deutliche Emanzipation stattgefunden, der Angekl. sei „jugendtypisch anlehnungsbedürftig”. Damit hat das LG im Ergebnis lediglich Umstände festgestellt, die eine Reifeverzögerung belegen (…)“ (BGH, Beschluss vom 20. 7. 2010 – 5 StR 199/10 (LG Hamburg)).

Auch die Annahme, der Angeklagte habe schädliche Neigungen durch seine falsch verstandene Kameradschaft aufgewiesen, ist widersprüchlich dargestellt: „Insoweit hat das Landgericht dargelegt, dass der Angeklagte bei der – ihm persönlichkeitsfremden – Tötungshandlung mitgewirkt habe, um anerkannt zu werden bzw. die Anerkennung nicht zu verlieren. Die Jugendkammer hätte angesichts dieser Feststellung erwägen müssen, ob diese Motivation – und damit auch die falsch verstandene Kameradschaft – ebenfalls den Reifeverzögerungen zuzurechnen ist und deshalb keine schädlichen Neigungen begründen konnte (…)“ (BGH, Beschluss vom 20. 7. 2010 – 5 StR 199/10 (LG Hamburg)). Zudem spräche die festgestellte Spontanität des Angeklagten an der Tötungshandlung gerade gegen schädliche Neigungen.

Auch lässt das Urteil des Landgerichts Erwägungen zu der Frage, ob solcherart schädliche Neigungen noch bei Urteilsverkündung vorgelegen haben, vermissen: „Es hat in diesem Zusammenhang wesentliche gegenläufige Feststellungen nicht erwogen, die Zweifel an der Fortdauer schädlicher Neigungen oder die Annahme von deren Überwindung hätten begründen können (…). Der Angeklagte hat bereits 9 Tage nach der Tat am 24. 4. 2008 sein den Mittätern gelobtes Schweigen gebrochen und sich den Ermittlungsbehörden gestellt, ohne gegen ihn bereits laufende Ermittlungsmaßnahmen gekannt zu haben. Auch wenn der Angeklagte seinen eigenen Tatbeitrag teilweise geleugnet hat, hat das Landgericht die zutreffende Belastung der Mitangeklagte (todesursächliches Strangulieren durch den Angeklagten B und Verlegung der Atemwege mittels gewaltsamer Einführung einer Zwiebel durch den Angeklagten L) als frühen Aufklärungsbeitrag gewürdigt. Darüber hinaus hat sich der Angeklagte nach zwei Entlassungen aus der ihn beeindruckenden Untersuchungshaft dem weiteren Verfahren jeweils gestellt, sein relativiertes Tatverhalten als falsch erkannt, sich entschuldigt und keine weitere Straftat mehr begangen“ (BGH, Beschluss vom 20. 7. 2010 – 5 StR 199/10 (LG Hamburg)).

Die dargestellten Mängel führten zur Aufhebung des Strafausspruchs.

„Auch wenn die Jugendkammer in nicht zu beanstandender Weise die Notwendigkeit von Verhängung von Jugendstrafe auch auf die Schuldschwere gestützt hat, ist nicht auszuschließen, dass sich die bisher von den Feststellungen nicht getragene Annahme schädlicher Neigungen bei der Bemessung der Jugendstrafe zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat. Der Aufhebung von Feststellungen bedurfte es bei dem hier vorliegenden Subsumtionsfehler nicht. Das LG wird die Jugendstrafe auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen neu zu bestimmen haben, wobei weitere Feststellungen, die nicht in Widerspruch zu den bisher getroffenen treten, dem Strafausspruch zu Grunde gelegt werden können“ (BGH, Beschluss vom 20. 7. 2010 – 5 StR 199/10 (LG Hamburg)).

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