Der Bundesgerichtshof (BGH) macht Andeutungen. Andeutungen dazu, dass nicht in jedem Fall erforderlich ist, dass der Täter zur Erfüllung des Tatbestandes des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der Variante „sexuelle Handlungen vor einem Kind“ (§ 176 IV Nr. 1 StGB), das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Kind von Bedeutung ist. Dies war bisher die gängige Formulierung, um den Tatbestand des § 176 I StGB (Kindesmissbrauch) restriktiv zu handhaben, weil andernfalls bereits sexuelle Handlungen der Eltern, die ein Kind (ungewollt) wahrnimmt, zur Erfüllung des Tatbestandes ausreichen würden.
Diese Rechtsprechung schränkt der BGH in der vorliegenden Entscheidung ein. Folgendes hatte sich zugetragen: Der Angeklagte vergewaltigte seine Lebensgefährtin. Ihr 5-jähriger Sohn nahm dies war und kommentierte die Szene: „Papa macht Mama Aua”. Dennoch setzte der Angeklagte seine Vergewaltigung fort.
Das Landgericht Hannover hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes sowie wegen Körperverletzung in 2 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 2 Monaten verurteilt.
Die Vergewaltigung der Mutter liegt auf der Hand. Aber sexueller Missbrauch eines Kindes? Der 5-jährige Sohn hatte die Szene beobachtet, das schon. Eine sexuelle Handlung vor einem Kind i.S.d. § 176 I StGB liegt also vor. Hier kam es dem Täter aber nicht darauf an, dass ein Kind die sexuelle Handlung, nämlich die Vergewaltigung der Mutter, beobachtet. Nicht auszuschließen ist, dass ihm dies sogar unerwünscht war.
Der BGH ringt sich nicht durch zu einer abschließenden Stellungnahme, äußert aber Bedenken, ob seine bisherige Rechtsprechung auf diesen Fall übertragbar ist; so heißt es:
„Der Verurteilung auch wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in der Form der Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind (§ 176 Absatz IV Nr. 1 StGB) könnten nach der neueren Rechtsprechung des BGH rechtliche Bedenken entgegenstehen. Danach reicht zur Erfüllung des Tatbestands nicht aus, dass das Kind die sexuelle Handlung wahrnimmt und der Täter dies erkennt. Erforderlich soll vielmehr sein, dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Kind von Bedeutung ist (…). Diese Einschränkung des Tatbestands durch eine einengende Auslegung des Merkmals „wahrnehmen” in § 184g Nr. 2 StGB in subjektiver Hinsicht mag in bestimmten Situationen (z. B. sexuellen Handlungen von Eltern in Anwesenheit des Kindes bei beengten Wohnverhältnissen) geboten sein, um einer Ausdehnung der Strafbarkeit entgegenzuwirken, die dadurch entstanden ist, dass der Gesetzgeber bei der Neufassung der Vorschrift durch das 6. Strafrechtsreformgesetz auf das Erfordernis der Tatmotivation einer sexuellen Erregung verzichtet hat (…). Der Senat hat allerdings Zweifel, ob dem auch für eine Konstellation zu folgen wäre, in der das Kind Zeuge einer Vergewaltigung der Mutter wird (…). Er muss dies nicht entscheiden, nachdem der Generalbundesanwalt einer Beschränkung der Strafverfolgung auf den Vorwurf der Vergewaltigung gemäß § 154a Absatz I Nr. 1, STPO § 154a Absatz II StPO zugestimmt hat“ (BGH, Beschluss vom 13. 11. 2012 – 3 StR 370/12 (LG Hannover)).
So lassen sich Probleme auch lösen. ..