Eine Entscheidung des dritten Senats des Bundesgerichtshofs (BGH) in einem Verfahren wegen des Vorwurfs der gemeinschaftlichen Vergewaltigung, bestätigt ein Urteil des Landgerichts Bad-Kreuznach, welches zwei Bundeswehrsoldaten zu Freiheitsstrafen von drei Jahren verurteilt hatte (BGH, Urt. v. 16.12.2021 − 3 StR 302/21).
Rechtsanwalt Dr. Baumhöfener hatte über dieses in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Urteil des 3. Strafsenats mit Blick auf die Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens des „Tatopfers“ beim Vorwurf der sexuellen Nötigung bzw. Vergewaltigung bereits berichtet.
Die Entscheidungen des Landgerichts Bad-Kreuznach und des Bundesgerichtshofs lassen bei ihren Bewertungen des Sachverhalts jedoch weitere wesentliche Umstände unberücksichtigt. Der Richter am Bundesgerichtshof Krehl, der Beisitzender Richter des 2. Senats des Bundesgerichtshofs ist, hat in einem Kommentar zu dem Urteil seiner Richterkollegen vom dritten Senat den Wunsch geäußert, „dass die Entscheidung des 3. Strafsenats ein vereinzeltes Judikat und die gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung zur Einholung von Glaubwürdigkeitsgutachten bei psychischen Auffälligkeiten, für deren Beurteilung dem Tatrichter augenscheinlich die Sachkunde fehlt, unangetastet bleibt“ (Krehl, NStZ 2022, 372, 377).
Der Sachverhalt
Den Angeklagten lag zur Last, die Nebenklägerin gemeinschaftlich vergewaltigt zu haben. Sowohl die Angeklagten als auch die Nebenklägerin waren bei der Bundeswehr beschäftigt. Die Angeklagten haben den Sexualverkehr mit der Nebenklägerin nicht in Abrede gestellt, jedoch bestritten, dass dieser nicht einvernehmlich erfolgte. Die Nebenklägerin hingegen behauptet nicht einvernehmlichen Sexualverkehr. Sie habe den Angeklagten mitgeteilt, keinen Geschlechtsverkehr mit ihnen zu wollen, den sie dennoch – ohne Gewaltanwendung – durchgeführt hätten. Die Beweislage ist demnach geprägt von einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation und mit der damit einhergehenden erhöhten Anforderung an die Beweiswürdigung.
Die Revision
Die Revision, welche u.a. von Rechtsanwalt Dr. Baumhöfener begründet wurde, wendete sich mit einer Verfahrensrüge auch gegen die fehlerhafte Ablehnung eines Antrags auf Sachverständigenbeweis. Die Verteidigung war der Auffassung, dass die Zeugin und Nebenklägerin an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung leidet, aufgrund welcher ihre Aussagekompetenz, gerade in Bezug auf Beziehungs- und Sexualtaten, nicht gegeben ist. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer solchen Krankheit ergaben sich daraus, dass bei der Nebenklägerin im Rahmen eines eineinhalbwöchigen Aufenthalts in einem Bundeswehrkrankenhaus nach einem Nervenzusammenbruch Anzeichen für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung festgestellt worden sind, sowie aufgrund der Tatsachen, dass sie um den Tatzeitraum herum häufig wechselnde Geschlechtspartner hatte und außerdem einen vormals als einvernehmlich deklarierten Geschlechtsverkehr mit dem zweiten Angeklagten im Rahmen der Hauptverhandlung als ebenfalls gegen ihren Willen durchgeführten Sexualakt beschrieb. Zudem wurden mit der ausgeführten Sachrüge die fehlerhafte Beweiswürdigung sowie fehlerhafte Anwendung des § 177 Abs. 1 StGB des Landgerichts gerügt.
In Bezug auf den Sachverständigenbeweis stellte der Verteidiger eines der Angeklagten durch Verlesen einen Antrag auf Einholung eines psychiatrischen-psychologischen Gutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die Zeugin und Nebenklägerin an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung leidet, aufgrund welcher ihre Aussagekompetenz, gerade in Bezug auf Beziehungs- und Sexualtaten, nicht gegeben ist. Das Landgericht Bad-Kreuznach hatte den Antrag der Verteidigung der Angeklagten auf Einholung eines psychiatrisch-psychologischen Gutachtens mit Verweis auf die eigene Sachkunde des Gerichts abgelehnt. Die Begründung in dem Zurückweisungsbeschluss leidet nach Auffassung der Verteidigung an durchgreifenden Rechtsmängeln.
Die eigene Sachkunde des Gerichts
Ob das Gericht sich im Einzelfall zu Recht eigener Sachkunde berühmt hat, oder umgekehrt, ob und ggf. in welchem Umfang ein Sachverständiger zu hören war, unterliegt der Überprüfung des Revisionsgerichts. Das Tatgericht hat dementsprechend, sofern es mehr als Allgemeinwissen in Anspruch nimmt, die Grundlagen eigener Sachkunde im Beweisbeschluss oder in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen (BGH, NStZ 2017, 300). Soweit die Strafkammer eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat, reicht die Begründung ihrer Entscheidung aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Sachverhalts nicht aus. Die Anforderungen, die an den Ausweis der richterlichen Sachkunde in dem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss oder den Urteilsgründen zu stellen sind, richten sich nach dem Maß der Schwierigkeit der Beweisfrage (BGHSt 12, 18, 20). Es bestand mit Blick auf die konkrete Fallgestaltung in Form einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation ein erhöhter Begründungsbedarf.
Die Ablehnung des Sachverständigenbeweises
Die Kammer lehnte im Rahmen ihres Zurückweisungsbeschlusses den begehrten Sachverständigenbeweis mit dem Hinweis ab, selbst über die notwendige Sachkunde zu verfügen, weil weder Eigenarten oder Besonderheiten in der Fallgestaltung noch in der Persönlichkeit der Zeugin vorlägen, die die Bewertung ihrer Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussage einschließlich ihrer Aussagekompetenz erschweren könnten. Es ergäben sich auch keine vernünftigen Zweifel an der Aussagetüchtigkeit der Zeugin aus dem Umstand, dass bei ihr nach einem Nervenzusammenbruch im Rahmen eines eineinhalbwöchigen stationären Klinikaufenthalts neben einer leicht depressiven Episode und partieller PTBS auch Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ festgestellt worden seien.
Die Kammer antizipiert das beantragte Beweisergebnis, dass die Nebenklägerin an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung leidet, die sich auf ihre Aussagekompetenz ausgewirkt hat, mit der Feststellung, dass es fernliegend sei, im Sexualverhalten der Nebenklägerin oder in ihrem widersprüchlichen Aussageverhalten Anhaltspunkte für eine solche Erkrankung zu sehen. Dass die Nebenklägerin an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung in Form einer Borderline-Erkrankung leidet, welche sich auf ihr Aussageverhalten ausgewirkt hat, sollte mit dem Beweisbegehren bewiesen werden. Insofern ist es eine unzulässige Antizipation, eben jene möglichen Anzeichen für eine derartige Erkrankung (häufig wechselnde Sexualpartner, Umdeutung einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs in nicht einvernehmlichen) als nicht erkennbar im Zusammenhang mit der Erkrankung stehend zurückzuweisen. Dass diese Anzeichen im Zusammenhang mit der Erkrankung stehen können und einen unmittelbaren Bezug zu dem Tatgeschehen haben, sollte mit dem Antrag bewiesen werden.
Die Kritik am Urteil des BGH
Der bereits erwähnte Richter des 2. Senats des Bundesgerichtshofs hat in Bezug auf das Urteil des 3. Senats ausgeführt, dass er dies für „bedenklich“ halte, insbesondere wegen der vom 3. Strafsenat gebilligten tatrichterlichen Verneinung konkreter und erheblicher Anhaltspunkte für das Vorliegen der behaupteten Borderline-Störung. Der Verteidiger des Angeklagten, so Krehl weiter, habe nicht nur Verhaltensauffälligkeiten der Zeugin benannt und diese als mögliche Anzeichen für die behauptete Persönlichkeitsstörung in den Raum gestellt, sondern auf einen einige Zeit nach der Tat erfolgten Nervenzusammenbruch, eine darauf erfolgte stationäre Aufnahme in ein Krankenhaus mit den Diagnosen einer leichten depressiven Episode und einer partiellen posttraumatischen Belastungsstörung sowie auf Anzeichen für eine Borderline-Störung hingewiesen. Diese Anzeichen hätten genügt. Das Landgericht hätte ein Glaubwürdigkeitsgutachten einholen müssen (NStZ 2022, 372, 376 f.).